Obwohl jeder Besitzer eines Smartphones ihn nutzt, wissen viele nicht, was ein OTT-Kommunikationsdienst ist und was seine Qualifikation als solche impliziert. Der Begriff wird außer von spezialisierten Juristen und Regulierern kaum verwendet und selbst unter den Stakeholdern der Branche fehlt oft ein umfassendes Verständnis für seine Eigenschaften. Die Erklärung, dass OTT für „over-the-top“ steht, schafft kaum weiteren Erkenntnisgewinn.
Der folgende Artikel erklärt die Entstehung des Begriffs, zeigt, wie die EU-Regulierung OTT-Anbieter adressiert und verdeutlicht die Grenzen der Regulierung anhand einiger prominenter Beispiele.
Der Begriff OTT-Dienst ist kein rechtlich definierter Begriff, sondern hat sich erst in jüngerer Zeit herausgebildet, um Dienste zu beschreiben, die die traditionellen Vertriebspartnerumgehen und stattdessen ihre Nutzer direkt über das Internet erreichen. Insofern beschreibt er eine große Vielfalt von Diensten, die außer ihrem Vertriebsweg wenig gemeinsam haben können. „Over-the-top“ soll verdeutlichen, dass die Dienste über die Internetverbindung laufen, ohne dass der Zugangsanbieter ihre Verbreitung kontrollieren kann.
Traditionell mussten z.B. Anbieter von Fernsehsendungen oder Filmen einen Vertriebsvertrag mit einem Kabel- oder Satellitennetz abschließen, um Zugang zu den Verbrauchern zu erhalten. Diese Verbraucher hatten kaum eine andere Wahl, als die Entscheidungen zu akzeptieren, die ihr Netzwerkanbieter (wenn auch wahrscheinlich an bestimmte regulatorische Vorgaben gebunden) traf. Im Gegensatz dazu können Fernsehinhalte heute einfach jedem angeboten werden, der über einen ausreichend leistungsfähigen Internetanschluss verfügt, ohne dass ein Gatekeeper vorhanden ist. In ähnlicher Weise hat das Aufkommen der Internet-Telefonie – zumindest in der Theorie – die Notwendigkeit von nummernbasierten Telefonverträgen obsolet gemacht (obwohl unter anderem die fehlende Interoperabilität zwischen Apps eine vollständige Substituierbarkeit immer noch verhindert).
Damit kommen wir zu einer ersten wichtigen Unterscheidung: Diese Homepage widmet sich ausschließlich den OTT-Kommunikationsdiensten, also dem letzteren der beiden oben genannten Beispiele. Diese Art von Diensten wird auch alsOTT-1-Dienste bezeichnet. Sie ermöglichen es den Nutzern, miteinander zu kommunizieren und haben somit immer einen interpersonellen Charakter. Da es sich um rein internetbasierte Dienste handelt, findet die Kommunikation nur von App zu App statt. Beispiele sind Messaging, E-Mailing und Internet-(Video-)Telefonie. Insofern stehen diese Dienste in Konkurrenz zu traditionellen Telekommunikationsdiensten wie der nummernbasierten Telefonie und der SMS.
Im Gegensatz dazu zeichnen sich OTT-2-Dienste durch die zentrale Bereitstellung von Inhalten für eine unbestimmte und theoretisch unbegrenzte Anzahl von Konsumenten aus. Dazu gehören Blogs, Streaming und Webseiten wie die, die Sie gerade lesen. Während OTT-2-Dienste unter Umständen einer besonderen Regulierung unterliegen, befasst sich das europäische Telekommunikationsrecht ausschließlich mit OTT-1-Diensten (Kommunikationsdiensten). Wenn auf dieser Website von OTT-Diensten im Allgemeinen die Rede ist, sind damit letztere gemeint.
Im Europäischen Kodex für die elektronische Kommunikation (EKEK) werden OTT-Kommunikationsdienste als sogenannte nummernunabhängige interpersonelle Kommunikationsdienste definiert (vgl. Art. 2 Nr. 7 EKEK), die wiederum eine Untergruppe der interpersonellen und damit auch der elektronischen Kommunikationsdienste darstellen (vgl. Art. 2 Nr. 7 EKEK). Diese systematische Einordnung sollte insbesondere bei der Identifizierung der für OTT-Anbieter relevanten regulatorischen Vorschriften nicht übersehen werden. Die nationalen Gesetze sind verpflichtet, diese Klassifizierung zu übernehmen, auch wenn ihre Terminologie leicht abweichen kann. Bitte beachten Sie: Da OTT-Dienste nun als elektronische Kommunikationsdienste gelten, unterliegen sie nicht nur dem EKEK, sondern allen Gesetzen, die sich mit solchen Diensten befassen.
Klassische Beispiele für OTT-Dienste sind (Video-)Telefondienste und Messenger wie Skype oder WhatsApp, aber auch E-Mail-Anbieter wie GMX oder Gmail. Reine Content-Anbieter (z. B. Nachrichtenportale, Blogs und andere Webseiten) oder Kommunikationsportale, über die entweder keine interaktive Kommunikation stattfindet oder der Kommunikator seine Adressaten nicht gezielt auswählen kann, fallen dagegen weiterhin nicht in den Regelungsbereich des EU-Telekommunikationsrechts. Forenbetreiber sind also insoweit weiterhin nicht reguliert, ebenso wenig wie Twitter oder andere (Micro-)Blogging-Dienste.
Dazwischen gibt es jedoch eine nicht unerhebliche Grauzone. Viele soziale Netzwerke bieten individuelle Kommunikationslösungen im Paket mit anderen Diensten an. Diese dürften keine bloß „untergeordnete Nebenfunktion“ darstellen, welche von der Regulierung ausgenommen ist (vgl. Art. 2 Nr. 5 EKEK). Nach unserer Einschätzung werden sich daher Diensteanbieter wie Facebook, LinkedIn oder Tinder der telekommunikationsrechtlichen Regulierung in der EU ausgesetzt sehen. Darüber hinaus finden sich auch in den Ökosystemen der Gaming-Industrie eine Vielzahl von Kommunikationsdiensten: Während der Twitch-Chat aufgrund seines offenen Charakters das Kriterium der Interpersonalität verfehlt und wohl von der Regulierung ausgenommen ist, unterscheiden sich die privaten Kanäle des Online-Dienstes Discord im Grunde nicht von einer WhatsApp-Gruppe. Auch Spieleplattformen wie Steam bieten individualisierte Kommunikationsmöglichkeiten an, die prinzipiell der Regulierung unterliegen.
OTT-Kommunikationsdienste müssen von inhaltsbezogenen Diensten unterschieden werden. Sie sind gekennzeichnet durch:
Ob ein bestimmter Dienst unter die neue EU-Richtlinie fällt, lässt sich jedoch nicht immer eindeutig beurteilen. Aussagen von Regulierungsbehörden und Gerichtsentscheidungen, die den Umfang der Regulierung spezifizieren, müssen in den nächsten Jahren genau beobachtet werden.